Rundbrief September 2014

Zerbrochenes Dasein

An den Montagen und Dienstagen nach einem langen Wochenende und nach Feiertagen steigt in Deutschland die Zahl der Anrufe bei der Telefonseelsorge und bei den psychologischen Beratungsstellen um 30 %. In schwere psychische Not geratene Menschen beenden ihr Leben gar durch Suizid. Alle 47 Minuten nimmt sich ein Mensch das Leben. Viele Mitmenschen erleben ihr Dasein offensichtlich mehr und mehr als hilflos und in einem solchen seelischen Bedrängtsein, dass sie ihren zerklüfteten persönlichen Innenraum nicht mehr bewohnen können. Wo sich das psychische Selbsterleben den unaufhörlichen Zweifeln an einem sinnerfüllten Lebensinhalt beugen muss, dort wird sich das Heidegger`sche „Sein“ als ein Streben „zum Tode hin“ mit einem beinahe pathologischen Zwang realisieren. Wer sich selbst nicht mehr ertragen kann, ist existenziell höchst gefährdet! „Es ist der in einer unheimlichen Welt auf seine letzte Einsamkeit zurückgeworfene Mensch.“(O. F. Bollnow)

In seinem Drama „Die zerbrochene Welt“ lässt der französische Existenzialphilosoph und Schriftsteller Gabriel Marcel einen seiner Protagonisten sagen: „Hast du nicht manchmal den Eindruck, daß wir in einer zerbrochenen Welt leben – wenn man das (noch) Leben nennen kann? Zerbrochen, ja – wie eine zerbrochene Uhr. Die Feder tut ihren Dienst nicht mehr. Äußerlich ist nichts verändert. Alles wo es hingehört. Doch wenn du sie ans Ohr hältst, hörst du nichts. Begreifst du nun: die Welt, was wir Welt nennen, die Menschenwelt – sie hat wohl einst ein Herz gehabt, doch ist es mir, als ob dies Herz nicht mehr schlüge.“

Diese düstere Metapher Gabriel Marcels scheint eine geradezu prophetische Seinserahnung zu beschreiben. Wird doch, angesichts des weltweit anhaltend Kriegerischen, ein destruktives Schema kultiviert, das sich dem Unheilvollen mit ungebrochener Permanenz widmet und der diabolischen Lust am Zerbrechen ein täglich frisches Menü serviert.

Wenn wir aber Sein als eine sinntragende Wirklichkeit definieren, dann wird es die Aufgabe der heilenden Kräfte in der Welt sein, die „Feder“ in der zerbrochenen Uhr, das gleichnishaft gemeinte „Herz der Menschenwelt“, wieder zu neuem Wirken zu bewegen. Die zerbrochene Welt ist in ihrem Inneren kalt, entseelt und erstarrt. Letztlich meint das zerbrochene und entwurzelte menschliche Dasein den Status eines leeren mechanistischen Lebensverständnisses.

Das rational-mechanistische Menschenbild verhindert weitgehend die „Einwurzelung“ in ein Sinnhaftes, das den Einzelnen von der Peripherie zur Mitte führen könnte. Der einzelne Mensch wird zu einem Handelnden in einem modernen System, eben zu einem Systemagenten, in dem vieles wahrhaft menschliche Bezogensein ausgewurzelt wird. Es gilt wohl auch künftig die verhängnisvolle kulturanthropologische Erfahrung: Je mehr die Technik voranschreitet, desto mehr schwindet die Bereitschaft zur Selbstreflexion! Fehlt nicht auch einigen Führungsgestalten der christlichen Kirchen, des Sports, der Politik, der Wirtschaft und schließlich auch der narzisstischen Wissenschaftler jene freiwillige Einkehr in ihre Seelenfragmente, um die Ursachen ihrer zerbrochenen Masken endlich näher zu betrachten? Die täglichen Medienberichte jedenfalls scheinen die Brisanz ihrer Berichterstattung von der seelischen Zerrissenheit vieler Prominenter zu nähren. Doch auch hier gilt: Nur mühsam wird sich das innere Heilwerden seinen Weg zu einer neuen Glaubwürdigkeit bahnen können! Denn: Sich aus dem Gefühl des Gebrochenseins einem tragenden Sinnerleben entgegenzuwenden, bedarf eines neu beseelten Antriebes, der die stumm gewordene „Feder der Lebensuhr“ mit frischer Dynamik belebt. Aber: „Wenn das Salz seine Kraft, seinen Geschmack verliert, womit soll es dann selbst gesalzen werden?“ (Mt. 5,12)

Der Verlust der persönlichen Identität – namentlich eines Führenden – vollendet wohl seine sittliche Niederlage. So mancher wird aus seiner sozialen Dressur und seinem normierten Konversationgebaren heraustreten und seine psychische Insolvenz eingestehen müssen. Dies bedeutet auch, zu lernen, eine konkrete, anschauliche und menschlich nahe Sprache zuzulassen, die ihre Wurzeln im Herzen hat. Letztlich überzeugt ja nur die persönliche Offenheit, die ein Sprechender zu erkennen gibt.

Die geistigen Angebote unserer Veranstaltungen tragen in besonderer Weise dazu bei, den Prozess der Selbstwahrnehmung beim Einzelnen zu initiieren. In dieser Tiefenbegegnung mit sich selbst gelingt es, jene Lebensthemen genauer zu betrachten, die schon länger auf eine ernsthafte Würdigung warten. Zu innerer Harmonie mit sich selbst und zu erkennbarer Souveränität zu gelangen, ist dabei ein wesentliches Ziel unserer persönlichen Gesprächsbegleitung in den Seminaren und Kolloquien.

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