Es scheint wohl sinnvoller zu sein, zuerst mit dem „dualistischen Partner“ des Verzichtens, dem Verwöhnen, zu beginnen. Denn Verzichten als ein beinahe verwittertes und auf der Wegstrecke des Lebens liegen gebliebenes Tugendwrack begreifen wir am ehesten, wenn uns entrissen wird, was unsere von Opulentem geprägte Selbstdefinition erschüttert.
Wie steht es nun mit dem Verwöhnen? Zunächst: Mit „Verwöhnen“ ist hier nicht die seltenere und einzigartige Geste des Wohlwollens und der Zuwendung gemeint; vielmehr sei hier die Verwöhnung als eine nachgiebige Haltung verstanden, die besonders dem heranwachsenden Menschen mit einer großen Fürsorge begegnet und in ihm die Erwartung weckt und wachhält, alle Wünsche erfüllt zu bekommen. Die Angst der Eltern nährt gleichsam ihre falsch verstandene Liebe zum Kind. Die Verwöhnung soll ihre oft verhinderte Zuneigung offenbaren. Doch vermag sie nicht, wirkliche Gefühle zu ersetzen, nicht die Zärtlichkeit und auch nicht die Frustrationen, die den Alltag trüben können. Zudem in einer nahezu konfliktfreien häuslichen Atmosphäre aufzuwachsen, versperrt im späteren Leben die Konfliktbereitschaft.
Die Folgen des Verwöhntwerdens sind sehr verhängnisvoll! „In mancher Hinsicht“, so beklagen viele Psychoanalytiker, „ist Verwöhnung genauso gefährlich wie Misshandlung und Vernachlässigung.“ Worin bestehen diese therapeutischen Bedenken? Nun, weil eine häufige und bequeme Form des Verwöhnens versäumt, dem Kind Grenzen zu setzen. Gerade aber im eigenen Begrenztsein wächst die intensive Selbstwahrnehmung. Es wird allmählich zur Selbstverständlichkeit für ein Kind, an einen Lebensstil herangeführt zu werden, in dem eine schier unbegrenzte Wunscherfüllung seinen Lebenssinn definiert.
Die Texte eines früheren Schlagerliedes scheinen der Kollektivseele die Unfähigkeit ihres Wartenkönnens bestätigt zu haben: „Ich will alles, ich will alles – und zwar sofort…“ Zudem reduziert das Verwöhntwerden die Eigeninitiative, aus der sich die psychische Autonomie entwickeln soll. Fehlende Antriebe aber verhindern letztlich die Entwicklung von Selbstvertrauen. So lernen verwöhnte Menschen später auch nur sehr schwer, für sich selbst zu sorgen. Wem alle Steine aus dem Weg geräumt wurden, der wird alles unternehmen, diesen Status des Bequemen aufrechtzuerhalten. Dauerhaft jedoch bleibt ein labiles Lebensgefühl zurück, in dessen Phasen resignativ-depressive Züge lauern.
Verzichten hingegen ist eine fast vergessene Tugend. Lange ruhte sie in der Truhe der sittlichen Antiquitäten, bis sich – „wie ein Dieb in der Nacht“ – das zunächst Unsichtbare in die Weltgemeinschaft einschlich: das Virus Covid-19. Und mit ihm klopfte die Forderung nach Verzicht an die Türen des Wohlstands.
Zwar kann man Tugendhaftes nicht anordnen; doch auf sich selbst zurückgeworfen zu sein, unterbricht den selbstgefälligen Lebensrhythmus und unterwirft ihn einer neuen Sinnfrage. Für viele verwöhnte Zeitgenossen stürzten die Wunschgebäude ein und auferlegten ihnen die fremd gewordene Genügsamkeit. Fast möchte man – angesichts der aggressiven Drohgebärden Selbsthassender – den Buchtitel des Philosophen Peter Sloterdijk mit dem Wortlaut erweitern: „Die schrecklichen und furchtbar verwöhnten Kinder der Neuzeit“. Wer in seiner Persönlichkeitsentwicklung nicht zur Mäßigung angeleitet wurde, sieht auch später keinen Sinn darin, seinen Anspruch auf Erfüllung seiner Wünsche aufzugeben. Wo das Wohlbehütetsein im Grunderleben des Einzelnen zum prägenden Daseinsbezug geworden ist, bricht das Verzichten wie ein Scharfrichter in die Innenwelt ein. Krisen werden aber nun einmal von Unbehagen initiiert. Sie unterbrechen den als harmonisch empfundenen Lebensrhythmus, um neue Pfade zu ebnen. Nicht das Bestrafen wohnt dem Verzichten inne, sondern der Aufbruch zu Genügsamkeit, Bescheidenheit und Entbehrenkönnen. Freiwillig NEIN zu sagen, führt zu innerer Reife; der verzichtende Mensch wird so zum Herrn über sich selbst. Das ist wahre Selbstoptimierung.
Zitat aus unseren Seminarinhalten
„Wer das Verzichten als Strafe erlebt, ist noch weit von sittlicher Autonomie entfernt.“