„Nur wer sich achtet, kann sich schämen.“ Mit diesem Untertitel seines Buches „Lob der Scham“ hat der Schweizer Psychiater Daniel Hell die Tür zu einer selbstkritischen Reflexion aufgestoßen. Denn das Schamphänomen scheint in den exhibitionistischen Talk-Runden und den revuemüden Hiphop-Narzissmen in arge Atemnot geraten zu sein. Dabei zieren doch die Schamgefühle das Gesicht einer sittlich reifen Kultur. Auch der Psychiater Hans Stoffels greift Erfahrungswerte zu dieser Thematik auf: „Eine Kultur ohne Scham läuft Gefahr, eine Kultur der Kränkung und des Gekränktseins zu werden.“
Sich für seine Gefühle zu schämen, kommt einer seelischen Teilamputation gleich. Die ambivalente Beschaffenheit des Schamhaften erlaubt gerade in der religiösen Interaktion (z. B. das Gleichnis vom Pharisäer und dem Zöllner) subjektive Wege der Bescheidenheit und der Prahlerei. (Mit jeder prahlerischen Selbstinszenierung jedoch entfernen wir uns von uns selbst!)
In der verformten Frömmigkeit verlieren wir deshalb unsere seelische Offenheit dem inneren Sein gegenüber. Sich selbst aber fremd geworden zu sein, bedroht auch das Mitgefühl im Zwischenmenschlichen; denn das Schämen erlaubt den Blick in das Befinden des Anderen.
Scham und Schamgefühle bedürfen unseres Schutzes. Weil der gesellschaftliche Erlebnishunger der Neuzeit kaum noch Schamschwellen respektiert, hat sich eine Schamlosigkeit ausgebreitet, die den Wert von Schamgefühlen schlechthin anzweifelt. „Das Neue und Beunruhigende“, so schreibt der Philosoph Robert Spaemann, „liegt darin, dass die Massstäbe selbst in Frage gestellt werden. Nicht, dass sich mehr Menschen schamlos benehmen, ist das Beunruhigende, sondern dass der Wert von so etwas wie Scham grundsätzlich bezweifelt wird.“ Die Werbung verspricht den Konsumenten Illusionen, ohne jemanden zum Erröten zu bewegen, selbst wenn sich das Angepriesene als Bluff offenbaren sollte. Dabei ist doch auch das Erröten kein pathogenes, sondern ein beinahe originäres körperliches Symptom für Schamgefühle. Wo die Schamschranken niedergerissen werden, schwindet die Eigenwürde und versagt die Regie des Gewissens.
Schamgefühle sind uns in die Entwicklung unserer Persönlichkeit hineingelegt. Kein Kind kann zur Scham ausdrücklich erzogen werden. Im Unterschied zum Gewissen ist Scham ein Gefühl und kein sittliches Urteil! Deshalb kann sich Scham auch nicht irren! Deshalb ist es auch sinnlos, jemandem seine Schamgefühle ausreden zu wollen. Die Redensart „Du sollst Dich schämen!“ ist unsinnig. Ethisch betrachtet, meint sie jedoch nicht die Aufforderung, sich zu schämen, sondern die Enttäuschung darüber, dass Scham jemanden davon nicht abgehalten hat, zu tun, was er tat. Scham bezieht sich auf unser Sein, Schuld auf unser Handeln! Eigenwürde und Selbstachtung sind mit unseren Schamgefühlen auf das Engste verbunden.
„Jemand, der keine Selbstachtung besitzt, kann sich auch nicht schämen. Scham setzt Selbstwahrnehmung voraus und fördert somit die Selbsterkenntnis…“
Daniel Hell
Die pathologische Seite der Scham – sie schmälert oft die Lebensfreude – nagt am Selbstwert des schambelasteten Menschen. Denn Schamgefühle bedrängen unsere Selbstentfaltung, indem sie uns Hemmungen auferlegen, die den Kräftefluss in uns in seinen Wirkungsabsichten anstauen. Einen Mitmenschen allerdings zu beschämen, ihn dem Hohngelächter der Öffentlichkeit auszuliefern, ist ein Ausdruck eines Handelns, das die eigene sittliche Schwäche offenbart.
Nicht selten finden wir die Schamgefühle mit einer Selbstanklage verschwistert. Es ist Ausdruck einer Lebensstimmung, in deren tiefem seelischen Grund sich die Mindergefühle aufbäumen.
Mit Schamgefühlen jedoch souverän umzugehen, sie zu akzeptieren, gibt unserem Menschsein eine ehrliche und unverfälschte Ausstrahlung.
Zitat aus unseren Seminarinhalten:
„Erst der offene Dialog vermag die Würde des Einzelnen greifbar werden zu lassen.“