Fast könnten wir von einer Diktatur der Impfbilder sprechen, die uns geradezu stündlich weltweit entgegenflimmern. In manchem älteren Mitbürger mögen tief schlummernde Erlebnisse wach geworden sein; hat doch die kindliche Berührungsangst vor der „Impfspritze“ noch heute sichtbare Narben, vor allem an den Armen, hinterlassen. Doch bei diesen Nadelstichen ist es im Leben nicht geblieben. Es werden uns, wohl alle Zeiten überdauernd, auch heute schmerzliche Stiche zugefügt, die unser Lebensgefühl kränken und unser Handeln entmutigen. So erleben wir ironisch-zynische Bemerkungen über unser Personsein als verletzende Nadelstiche, die uns bis in unsere Wesenstiefe hinein verwunden können. Es sei offen gelassen, aus welchem Motiv heraus ein Mitmensch derartig Verächtliches ausspricht; nicht selten allerdings sind Neid, Mindergefühle oder Ängste die Triebimpulse, die den Verletzungsabsichten einen geradezu diabolisch-kreativen Spielraum anbieten. Der Philosoph Gabriel Marcel nennt eines seiner Bücher „Die Erniedrigung des Menschen“. In diesem Kontext spricht er gar die „Techniken der Entwürdigung“ an, denen sich unser Dasein ausgeliefert sieht. Die gezielten verbalen Verletzungen des Mitmenschen, die ihn in seiner persönlichen Würde kränken, vergleicht er mit der Verabreichung von Gift, das seine Wirkung nicht verfehlt.
Sprachliche Nadelstiche werden nicht selten subtil angebracht. Ihre Tarngewänder glitzern vor anerzogener Höflichkeit und listigen Schmeicheleien. Doch wo die Heuchelei den Blick für das wahrhaft reale Lebensgeschehen trübt oder verdrängt, gerät alles Ehrenhafte ins Wanken. Mahnt uns nicht manche Weisheit des Alten Testaments, mit unseren Dialogen besonnen umzugehen? So heißt es etwa bei Jesus Sirach: „Gar manche führen Reden gleich Schwertstichen; doch Heilung bringt des Weisen Zunge.“ Letztlich ist ja auch Psychotherapie ein helfendes Bemühen um seelische Gesundheit, geleitet und getragen vom Wort, vom Gespräch.
Die Selbstvernichtung durch die Drogennadel schließlich ist wohl die schlimmste Bedrohung für das eigene Leben. Das eingespritzte Rauschbegehren bereitet stets den Pfad zur „süßen Selbstzerstörung“ vor. Weil „Rache süß ist“, wird für den Süchtigen der Körper zu einem ambivalenten Dealpartner: Er genießt ihn lustvoll und bestraft ihn sadistisch. Die vermeintlich heilbringenden Nadelstiche mit ihrer tödlichen Dosis sind der tragische Garant für ein oft frühzeitiges Lebensende in jungen Jahren.
Doch kein Paradoxon ist dauerhaft statisch. Das scheinbar Widersinnige in ihm löst sich auf, sobald es durch die Realität überprüft wird. Die pandemische Gegenwart krönt die Nadelstiche zu einem bis jetzt einzigartigen Therapeutikum, dem höchste Verehrung dargebracht wird. Die Impfzentren werden zu neuen Kultstätten, in denen mit den Impfstoffen auch Hoffnung geschenkt wird. Wer hätte je vor Jahresfrist von „Impfprivilegierung“ und „Impfpriorisierung“ und „verimpfen“ gesprochen? Das ritualisierte Heilen gebiert auch eine neue Semantik.
Die oftmals gefürchteten Nadelstiche spenden nun ein willkommenes Serum. Sie werden zu Heilsbringern und Helfern gegen die Angst – die Todesangst!
Könnte sich dennoch die Corona-Krise nicht auch als ein tiefer Nadelstich in das epochale Bewusstsein erweisen?
Zitat aus unseren Seminarinhalten:
„Zur Person ist jenes Ich herangereift, das um seinen Sinn und sein Lebensziel weiß.“