Rundbrief April 2019

Lektüre und Geduld

Haben Buchmessen – angesichts der weltweiten Dominanz elektronischer Medien – heute noch einen Sinn? So oder ähnlich mag sich mancher Besucher nach seiner Heimkehr vom diesjährigen Leipziger Stelldichein der Verlage und Autoren gefragt haben. Und bei diesen Überlegungen wurde ihm möglicherweise bewusst, dass ja solche künstlerischen Ereignisse auch eine Berührung mit seiner eigenen Persönlichkeit beabsichtigen. Denn ein aufgeschlossener Leser zu sein, immer wieder eingeladen zu werden, seine Teilhabe an einer stetigen und tieferen geistigen Entwicklung zu pflegen, vermittelt dem Einzelnen ein Gefühl von permanenter Gegenwart des Kulturellen in seiner Lebensgestaltung. (Kulturell zu leben, heißt auch immer, sich der Wahrung gültiger Werte zu widmen.) Die menschliche Persönlichkeit reift zudem dadurch, dass sie ihrem originären Entfaltungsdrang einen Raum anbietet, in dessen Innerem die noch latent gebliebenen Wesenszüge auf ein Aufbruchssignal warten.

Ein solches inneres Aufbrechen kündigt sich beim Leser als ein Gesinnungswandel an: das schlichte Lesen wird zur Lektüre, aus dem Leser wird der „Lektürer“! Am formalen Akt des Lesens ändert sich zwar nichts. Aber die sonst kaum reflektierte, weil dem asthmatischen Zeitdruck unterworfene Blickjagd über die Zeilen, weicht einem Verweilen und geduldigen Aufnehmen des Geschriebenen. Die Lektüre als inniges Eintreten in umfangreiche Textangebote bildet und bindet den geistigen Habitus des Lesers. Lektüre, Gelassenheit und Geduld gründen eine geistige Familie. Sie leiten eine Wertverschiebung ein, indem sie zum entspannenden Gebundensein und zur asketischen Ruhe motivieren. Die Angst vor umfassenderen Texten löst sich allmählich auf. Lektüre ist daher mehr als ein vom Zeitgeist verordnetes Konsumieren des augenblickshaften Daherflatterns in der Medienlandschaft. Die Warnung einer Schlagzeile in der Tagespresse „Vorsicht, dies ist ein etwas längerer Text!“ konfrontiert den Ungeduldigen mit sich selbst, sich nicht mehr dem visuellen Kurzsprint am Bildschirm oder dem Printverteilten zu unterwerfen, sondern dem Anliegen der Achtsamkeit zu folgen. „Immer, wenn du von deinem Denken Gebrauch machst, mußt du üben, ganz da zu sein, nicht geistesabwesend oder halbherzig. Gib dein ganzes Sein hinein. Aufmerksam zu sein bedeutet, sensitiv zu sein. Das Denken ist nur wach, sensitiv und aufmerksam, wenn es nicht in Gewohnheitsmustern kreist… Mechanische Wiederholung ruft eine Illusion des Lebens hervor, sie ist aber weder Begegnung mit dem Leben noch Wachstum.“ (Vimala Thakar, 1921 – 2009)

Auch die Lektüre birgt die Quelle der Achtsamkeit in sich. Ihr unaufdringlicher und seriöser Appell nach zeitloser Kontinuität unterscheidet sie von den selbstberufenen Performancekünstlern der Gegenwart, die sich auf dem Markt des sogenannten Achtsamkeitstrainings tummeln. „Man darf sich nicht in geistige Übungen stürzen, nur weil sie zur Zeit Mode sind“, mahnt ein indischer Weiser. Denn große geistige Resultate lassen sich nicht aus den „Arsenalen der Anthropotechnik“ (Sloterdijk) schöpfen. Geistige Werte werden aus der Geduld geboren; sie überdauern die ideologischen Erdbeben, auch wenn ihre kulturellen Tempel von einem Banausentum zerstört werden. Die Lektüre als Schatzkammer gereifter Erkenntnisse öffnet ihre Tore für das Tageslicht des Interdisziplinären. Der Bildungsstand, der einen Menschen auszeichnet, reicht zurück in das Universelle der menschlichen Geistesgeschichte. Insofern ermöglicht es das geschriebene und gedruckte Wort dem Lektürer, in die Seele des bisher Ungesagten einzutreten, um eine Wegweisung zu empfangen, die ihm Lebensorientierung und Erfüllung zugleich bedeutet.

Zitat aus unseren Seminarinhalten

„Die innere Stärke vermag äußerem Anstürmen souverän zu widerstehen.“ (Nach Viktor Frankl)

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