Rundbrief September 2019

Kreuzfahrten der Seele – Verlorene Schamgefühle

Etymologisch gesehen, wird „Seele“ zwar als ein unerklärtes Tabuwort betrachtet; doch die Vermutung, dass sie die „vom See Herstammende, zum See Gehörende“ sei, wurde durch den alten Glauben der Germanen genährt, wonach „die Seelen der Menschen vor der Geburt und nach dem Tod im Wasser leben sollen“. (Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S. 1268) Insofern könnten „Seelentiefe“ und „seelischer Tiefenrausch“ archetypisch-semantische Sprachreste einer inneren Empfindungswelt sein, die ein Mensch in sich trägt und die in ihm die Sehnsucht nach dem Wasser wachhalten. Könnte ihn diese Beseeltheit nicht drängen, auch in den Kreuzfahrten zu einem latenten, stets immanenten Ursprung zurückzukehren? Verbinden sich vielleicht sogar bei den luxuriösen Kreuzfahrten, animiert durch „Traumschiff-Serien“, die idealisierte Urlaubswelt und der verführerische Gigantismus zu einem trügerischen Gefühl von Freiheit?

Doch die Massen verschlingenden Meeresungeheuer verjagen mit ihrer gestylten Freundlichkeit jegliche idyllischen Erwartungen. Kein Wunder also, dass das Selbstsein des Passagiers von den Unterhaltungsangeboten an Bord und den Landgängen zu den Küstenregionen überschüttet wird. Je größer die Kreuzfahrtschiffe – kürzlich auch „Urlaubsfabriken“ mit 6000 Gästen genannt – desto bedenklicher die Anonymität im Zwischenmenschlichen. Und die glänzende Seelenlosigkeit der Passagierkabinen gaukelt ein Ambiente vor, das die Seetouristen von jedem Vorwurf exkulpiert, sich in irgendeiner Weise an der Natur vergangen zu haben. Ethisch gesprochen, könnte man diese Haltung als fehlende „Kreuzfahrtscham“ bezeichnen.

Aber nicht nur in den Urlaubsaktivitäten, sondern auch in der erweiterten Erlebnisgesellschaft scheinen Schamschwellen und Schamgefühle kaum noch zu existieren. Es hat sich eine Schamlosigkeit ausgebreitet, die den Wert von Schamgefühlen schlechthin anzweifelt. „Das Neue und Beunruhigende“, so schreibt der Philosoph Robert Spaemann (1927 – 2018), „liegt darin, dass die Massstäbe selbst in Frage gestellt werden. Nicht, dass sich mehr Menschen schamlos benehmen, ist das Beunruhigende, sondern dass der Wert von so etwas wie Scham grundsätzlich bezweifelt wird.“ Wir erleben nahezu täglich, dass uns die Werbung Illusionen verspricht, ohne jemanden zum Erröten zu bewegen, selbst wenn sich das Angepriesene als Bluff offenbaren sollte. Dabei ist doch auch das Erröten ein körperliches Symptom für Schamgefühle! Auch in der politischen Landschaft werden Versprechen abgegeben. Es scheint aber, als sei die Scham jenen Politikern fremd geworden, die ihre Zusagen nicht eingehalten haben. Die Bevölkerung nimmt diesen kollektiven Schamverlust bedenkenlos hin. Wer dagegen aus seiner Wesenstiefe heraus agiert, wird diesen schamlosen Wortbrüchen mit dauerhafter Skepsis begegnen.

Wo die Schamschranken hemmungslos niedergerissen werden – so etwa ist die Scham in der Sphäre der Sexualität paradigmatisch beheimatet – schwinden die Eigenwürde und die Regie des Gewissens. Muss es uns nicht nachdenklich stimmen, weil es inzwischen als normal empfunden wird, pornographische Filmprodukte als seriöse Kunstwerke zu interpretieren – und dies in seriösen Zeitungen zu publizieren?

Schamgefühle sind ein natürliches Geschenk, das uns in die Entwicklung unserer Persönlichkeit gelegt wurde. Kein Kind kann zur Scham ausdrücklich erzogen werden. Im Unterschied zum Gewissen, ist Scham ein Gefühl und kein sittliches Urteil. Deshalb kann sich Scham auch nicht irren! Deshalb auch ist es sinnlos, jemandem seine Schamgefühle ausreden zu wollen. Daher meint auch die Redensart „Du solltest dich schämen!“, ethisch betrachtet, nicht eine Aufforderung, sich zu schämen, sondern die „Enttäuschung darüber, dass Scham jemanden nicht davon abgehalten hat, zu tun, was er tat“.

Scham bezieht sich auf das Sein eines Menschen. Diesem Erleben liegt das wichtigste elementare Befinden zugrunde: das Selbstwertgefühl. Eigenwürde und Selbstachtung tragen unser Schambewusstsein. Aristoteles gar bezeichnet Scham als die Tugend der Feinfühligkeit. Sich schämen zu können, heißt stets, seiner Selbstachtung treu zu bleiben. Um sich schämen zu können, muss ein Mensch sich selbst lieben!

Unsere Arbeit führt die Teilnehmenden zu einem tieferen Selbstbegreifen. Dies geschieht durch theoretische Unterweisung ebenso wie durch Übungen und Einzelgespräche. Oftmals werden wir dadurch zu kontinuierlichen Wegbegleitern für den Alltag des Einzelnen.

Zitat aus unseren Seminarinhalten

„Die Moderne ist die Zeit, in der die Menschen, die den Appell zur Veränderung hören, nicht mehr wissen, womit sie beginnen sollen: mit der Welt oder mit sich selbst – oder mit beidem zugleich.“ (Peter Sloterdijk)

Weitere Rundbriefe

Die Stille im Denken

Neun Monate ist es inzwischen her, dass Baldur Kirchner, der Begründer unseres Instituts, verstorben ist. Neun Monate, in denen wir ...

Traurige Nachricht

Leider müssen wir Ihnen heute die traurige Nachricht überbringen, dass Baldur Kirchner am 17. April im Alter von 83 Jahren ...

Verschmutzung im Wesensinneren

In einem Interview über das seelische Verletztsein eines Volkes zeichnet der Philosoph Peter Sloterdijk ein knappes Psychogramm dieses Traumas. Er ...

alle Rundbriefe

Kontaktieren Sie uns

Wir helfen gerne weiter

Sandra Dombrowski

Sandra Dombrowski

Leiterin Seminarorganisation

info@kirchner-seminare.de

0821 - 99 88 30 85

Wir sind Montag bis Donnerstag von 8:30 bis 17:00 Uhr für Sie da.

Standort

Kirchner-Seminare GbR

Zeugplatz 7

86150 Augsburg

Ihre Nachricht an uns