Rundbrief Mai 2014

Grenzerfahrungen

Läuft die heutige Gesellschaft Gefahr, sich in Ent-Grenzung und Maßlosigkeit (Christa Meves „Manipulierte Maßlosigkeit“) zu verlieren? Kennzeichnet der Triumphzug des psychischen Exhibitionismus in einigen Fernsehkanälen eine kollektiv gewordene Schamlosigkeit? Bedroht ein geradezu voyeuristisch lauernder Internetzwang die Insel der persönlichen Integrität und Intimität?

Dort, wo die industrialisierte Welt versucht, immer neue Bedürfnisse zu wecken, um sie dann wieder zu befriedigen, geht die sinnerfüllte Lebensgestaltung des Einzelnen weitgehend verloren! Wo sich ein ungezügelter Hedonismus ausbreitet, bleibt kein Raum mehr für den selbstkritischen Blick in das eigene Innenleben. So sagt der Wiener Arzt und Psychoanalytiker Viktor Frankl (1905 – 1997), Begründer der Logotherapie, dass „trotz materiellen Wohlstands der Mensch etwas vermisst, wofür es sich zu leben lohnt“. Und der römische Philosoph, Rhetor, Staatsmann und Stoiker Seneca (4 v.Chr. – 65 n.Chr.) gar beklagt im 60. seiner „Moralischen Briefe an Lucilius“, dass „uns die Natur einen so unersättlichen Magen gegeben hat,…dass wir die Gier der riesigen und gefräßigsten Tiere übertreffen“. In der Tat: Menschen in unserer „modernen“ Gesellschaft essen und trinken maßlos. Sie geben unbedacht und unkontrolliert Geld aus. Sie gehen persönliche und wirtschaftliche Risiken ein. Sie leben oftmals in der pathologischen Lust an der Selbstdestruktion. Ihre Erwartungen an sich selbst und an das soziale Feld tragen morbide Züge, ja, sie lassen ein ausgewogenes Lebenskonzept vermissen. Wo aber erscheint im inneren Selbstbezug der menschlichen Persönlichkeit die Grenzziehung zum Gigomanischen, um zu sich selbst zu finden?

Für ein harmonisches seelisches Gedeihen schlechthin sind Grenzen notwendig! Kinder brauchen Grenzen! Bereits die frühkindliche Trotzphase vermittelt, bei allem aufreibenden Interagieren, im Nein der Bezugspersonen zu den noch infantilen Eroberungszügen den klaren Appell, Grenzen zu akzeptieren. Mag auch das sonst so notwendige Besitzstreben des Kindes das Urerlebnis allen späteren Begehrens sein. Niemand jedoch lebt wirklich glücklich, der sein Leben nicht innerhalb bestimmter Grenzen gestaltet. Auch in der späteren pubertären Auseinandersetzung werden Grenzen gesprengt, wird das eingeübt Beständige in das Ungewisse, Flüchtige gedrängt. Dennoch werden die bis dahin erworbenen Lebensmuster dem jungen Menschen eine elementare Daseinsfestigkeit vermitteln.

Grenzerfahrungen sind allerdings immer auch ambivalente psychische Grunderlebnisse. Das Wissen, dass unser Menschsein in seinen Ausprägungen stets begrenzt bleiben wird, ist ein Teil der Selbstakzeptanz. Wer sich dagegen permanent überfordert, brennt innerlich aus. Zahlreichen Führenden droht deshalb der Kollaps des Burnout-Syndroms, der völligen seelischen und körperlichen Erschöpfung. In der Depression etwa wird der Leidende gezwungen, sich gegen das Grenzenlose zu schützen und zu sich selbst zurückzufinden.

Die seelische Grenze bietet dem Einzelnen einen Geborgenheits- und Entfaltungsraum. Daraus erwächst auch der Anspruch an die Mitwelt, diesen Innenraum nicht zu betreten, ihn nicht zu verletzen. Besonders in der privaten Partnerschaft ist die Abgrenzung, das Ausgewogensein von Nähe und Distanz, die Voraussetzung für wirkliche Persönlichkeitsentfaltung im Raum des heilsamen Miteinanders. Übergriffe und andere Formen der Bevormundung allerdings lösen Grenzkonflikte aus, die oftmals nicht mehr aus eigener Kraft gelöst werden können.

Seine Grenzen zu kennen, bedeutet, den Weg einer realistischen Selbstwahrnehmung und Selbstverwirklichung zu gehen. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass eigene zumutbare Grenzüberschreitungen auch ein Erproben des kreativ Möglichen und neu Erfahrbaren anbieten. Diese Angebote, aus bisherigen geistigen Räumen herauszutreten und persönliche Grenzerweiterungen zu erleben, warten in unseren Veranstaltungen.

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