Es ist wohl ein genuines Anliegen der Schöpfung, das Bedürfnis nach Harmonie in unsere Daseinswünsche eingepflanzt zu haben. Paarbeziehungen und familiäre Bindungen erleben ihr Gefestigtsein durch ihren weitgehend harmonischen Lebensstil, der den gemeinsamen Wunsch nach Nähe zum Anderen wesentlich nährt. Harmonie schenkt Geborgenheit und das Berührtwerden von der eigenen und fremden Seelenwelt.
Wer dagegen ein Verbrechen begeht, durch das Wort oder durch sein Handeln, ist augenblicklich oder für längere Zeit vom Gefühl der Harmonie abgeschnitten. Das Unglück, das über ihn hereingebrochen ist, bedroht die Seele des Mitmenschen. Wer unser Harmoniestreben zerstört, ergötzt sich an der Macht über den Hilflosen und seiner Unterlegenheit. Dem Harmoniefremden fehlt eine Kontinuität, die ihm Wesensfülle und Souveränität schenken könnte. Das Nichts, die innere Leere hat keine Sprache. (Picard) Der Psychoanalytiker Arno Gruen sagt: „Das Unbewusste der machthungrigen Menschen ist der Ort der erlebten Leere. Innere Leere kann man im anderen nicht erkennen, wenn man selbst leer ist. Man sieht nur das äußere Erscheinungsbild und vermeidet damit, sich der eigenen
Leere stellen zu müssen.“
Wer an der Peripherie seines Lebenskurses agiert, hinterlässt leicht den Eindruck, ein seelischer Leerkörper zu sein. Damit sind Menschen gemeint, die wir als Identitätslose erleben; denn Identitätslose sind seelisch heimatlos und leben ohne wahre innere Geborgenheit. Sie sind seelische Streuner, die auch nicht vor gezielten geistigen Vernichtungsstrategien zurückschrecken. Weil Identitätslose von ihrer empathischen Erlebniswelt getrennt wurden, kultivieren sie das Destruktive und leben in einer Harmonieferne. Noch einmal sei dazu Arno Gruen zitiert: „Die Verachtung anderer wird so zur Basis einer Identität, der das Eigene fehlt, die haßt…und die deshalb das Fremde braucht, um dort das eigene Fremde bestrafen zu können.“
Unser Lebensgefühl dagegen, namentlich unsere Harmoniewelt, ist der unbestechliche seelische Seismograph, der uns die tiefen inneren Erschütterungen meldet, die uns oftmals widerfahren. Dann leiden wir an uns und unter uns selbst, und wir beklagen häufig die Bedingungen, die uns der Alltag auf den Weg wirft. Es ist der Verlust an Lebensharmonie, der unsere Stimmungen prägt und unseren Weltbezug lenkt. Was wir erleben, bindet uns, und sei es die winzigste Erfahrung mit Leid und schmerzvollen Begegnungen. Der Stoiker Seneca jedoch relativiert die Bewertung, was ein Unglück sei. In einem seiner Lucilius-Briefe schreibt er – gleichsam als Angebot für ein vom Schicksal bedrohtes Leben – folgende Empfehlung: „Für den guten Mann gibt es kein Unglück außer der Tatsache, dass er manches, was in der Welt existiert, dafür hält.“ Mancher Zeitgenosse wird sich ob dieses scheinbar sorglos „ethischen Geplauders“ die Haare raufen – scheint doch die Welt gegenwärtig aus den Fugen geraten zu sein und ihr zerschundenes Gesicht zur Schau zu stellen. Stellt Seneca mit seiner ästhetischen Ironie aber nicht alles extrinsische Walten und Wirken in den Schatten einer Ohnmacht, der unser Lebensgefühl latent ausgesetzt ist? Wohl nicht! Was Unglück bedeutet, wird zwar von der Erlebnis- und Leidenstiefe, die uns bedrängt, bestimmt. Doch das wesensimmanente Drängen nach Selbsterhaltung und Harmonie – als eines biophilen Auftrages an uns – öffnet uns auch das Tor für den Panoramablick, eben zum Ganzen hinwärts gerichtet zu sein. Anders gesagt: In jedem Bemühen um individuelle Selbsterhaltung wohnt auch stets die vom Leben auferlegte Identifikation mit der Ganzheit unseres Daseins. Der Philosoph Robert Spaemann drückt es so aus: „Diese Identifikation mit dem Ganzen heißt Weisheit. Kein anderes Leben kann gelingen als das des Weisen.“ Denn Weisheit meint hier das ausgeprägte innere Gestimmtsein, in dem die Harmonie, die Weltmelodie, immer von Neuem erklingt. Der harmonische Mensch kennt nur selten ein inneres Abgerissensein, das ihn an den Rand des maßvollen Umgangs mit den Geschehnissen um ihn herum drängte.
Je mehr dagegen ein Mensch seiner psychischen Entfaltung beraubt wird, desto intensiver pocht die brennende Ungeduld an das Tor seines Begehrens. Nicht so bei einem Menschen, der in Harmonie, in innerer Ausgeglichenheit lebt. Was er innerlich als das Zusammenhaltende spürt, bewahrt ihn vor einer Disharmonie in seinem Daseinsbezug.
Zitat aus unseren Seminarinhalten:
„ Erst das Gespräch bestätigt unser Hiersein. Wenn das Wort aufhört, bleibt nur das Umrisshafte zurück.“